01/2011: Die Todeszone
Das erste Thema des Monats im Jahr 2011 beschäftigt sich dem Lostplace schlechthin – Tschernobyl. Am 26. April 1986 ereignete sich die bislang größte nukleare Katastrophe weltweit in Tschernobyl – damals in der Sowjet-Union und heute in der Ukraine gelegen. In Folge des Unglücks wurde eine 30-Meilen-Schutzzone rund um den harvarierten Reaktor eingerichtet. Um sich die Dimensionen zu verdeutlichen: Wäre das Unglück in Essen passiert, wäre die Region zwischen Düsseldorf und Dortmund menschenleer und eine riesige Geisterstadt. Die Chronologie des nuklearen Super-GAUs befindet sich am Ende dieses Artikels.
Während das öffentliche Interesse in den Jahren nach der Katastrophe von 1986 abflachte, rückt Tschernobyl im „Jubiläumsjahr“ wieder stärker in den Mittelpunkt. Nach Berichten der Zeit soll die Sperrzone zukünftig dem Tourismus geöffnet werden. Bereits in den vergangenen Jahren boten regionale Veranstalter in der Ukraine Touren in die Todeszone an.
Der polnische Fotograf und Filmemacher Arkadiusz Podniesinski hat die Sperrzone zwischen 2008 und 2010 fünfmal besucht. Über den persönlichen Hintergrund und seinen aktuellen Gesundheitszustand gibt es keine Informationen. Die Ergebnisse seiner Touren in die Todeszone hat er auf seiner Website http://www.podniesinski.pl/ veröffentlicht und in dem nachstehenden Film zusammengefasst. Der Film ist mit einer Helmkamera aufgenommen; diese Technik schafft zusammen mit der Musik eine eindringliche Atmosphäre. Vor allem die Bilder vom Dach eines 16-stöckigen Hochhauses, die ein Panorama über die Todeszone liefern, vermitteln einen imposanten Eindruck vom Ausmaß der Katastrophe.
Chronologie der Katastrophe von Tschernobyl
25. April 1986, 01:06 h:
Als erster Schritt sollte die thermische Leistung des Reaktors von ihrem Nennwert bei 3 200 Megawatt (MW) auf 1 000 MW reduziert werden, wie bei einer Regelabschaltung üblich. Der Reaktor sollte sowohl für eine Revision als auch für den Test abgefahren werden.
25. April 1986, 13:05 h:
Aufgrund erhöhter Stromnachfrage wird auf Anweisung des Lastverteilers in Kiew die Leistungsabsenkung bei einer erreichten Leistung von 1 600 MW unterbrochen und der Reaktor mit dieser Leistung konstant weiter betrieben. Bei diesen etwa 50 % Leistung wird der Turbogenerator 7 abgeschaltet.
25. April 1986, 14:00 h:
Es wird begonnen, das Notkühlsystem abzuschalten. Grund dafür war, dass bei einem Notkühlsignal kein Wasser in den Reaktor gepumpt werden soll.
25. April 1986, 23:10 h:
Es erfolgt die Freigabe zur weiteren Leistungsabsenkung. Der Reaktor soll nun langsam auf 25 % der Nennleistung abgefahren werden.
26. April 1986, 0:00 h:
Eine neue Schichtmannschaft übernimmt den Reaktor.
26. April 1986, 0:28 h:
Bei 500 MW erfolgte eine Umschaltung innerhalb der Reaktorleistungsregelung. Durch einen Bedienfehler, durch den der Sollwert für die Gesamtleistungsregelung möglicherweise nicht richtig eingestellt wurde, oder auf Grund eines technischen Defekts sank die Leistung weiter bis auf nur noch etwa 30 MW, was ca. 1 % der Nennleistung beträgt.
Wie nach jeder Leistungsabsenkung erhöhte sich vorübergehend die Konzentration des Isotops Xenon-135 im Reaktorkern („Xenonvergiftung“). Da Xenon-135 als Neutronengift die für die nukleare Kettenreaktion benötigten Neutronen sehr stark absorbiert, nahm aufgrund der Konzentrationszunahme die Reaktivität des Reaktors immer weiter ab. Als die Betriebsmannschaft am 26. April 1986 um 0:32 Uhr die Leistung des Reaktors durch weiteres Ausfahren von Steuerstäben wieder anheben wollte, gelang ihr das infolge der mittlerweile aufgebauten Xe-Vergiftung nur bis zu etwa 200 MW oder 7 % der Nennleistung.
Obwohl der Betrieb auf diesem Leistungsniveau unzulässig war (laut Vorschrift durfte der Reaktor nicht unterhalb von 20 % der Nennleistung betrieben werden, was 640 MW entspricht) und sich zu diesem Zeitpunkt außerdem viel weniger Steuerstäbe im Kern befanden, als für einen sicheren Betrieb vorgeschrieben waren, wurde der Reaktor nicht abgeschaltet, sondern der Betrieb fortgesetzt.
26. April 1986, 01:03 h:
Bei Schließen der Turbineneinlassventile läuft normalerweise das Kernnotkühlsystem an. Dieses war jetzt jedoch ausgeschaltet. Um dessen Stromverbrauch für den Versuch zu simulieren, wurden nacheinander zwei zusätzliche Hauptkühlmittelpumpen in Betrieb genommen. Der dadurch erhöhte Kühlmitteldurchsatz verbesserte die Wärmeabfuhr aus dem Reaktorkern und reduzierte demgemäß den Dampfblasengehalt in ihm. Der positive Dampfblasen-Koeffizient bewirkte eine Reaktivitätsabnahme, auf welche die (automatische) Reaktorregelung mit dem Herausfahren weiterer Steuerstäbe reagierte. Der Reaktorzustand verschob sich weiter in den unzulässigen Bereich.
26. April 1986 1:19 h:
Die Wasserzufuhr in den Reaktor wird erhöht, um so die Warnsignale zu deaktivieren. Es gelingt, den Reaktor zu stabilisieren und den Wasserpegel im Reaktor auf zwei Drittel des vorgeschriebenen Wertes zu steigern.
26. April 1986, 1:23 h:
Turbinenschnellschlussventile. Dadurch wurde die Wärmeabfuhr aus dem Reaktor unterbrochen, sodass die Temperatur des Kühlmittels nun anstieg. Infolge des positiven Dampfblasen-Koeffizienten kam es jetzt zu einem Leistungsanstieg, auf den die automatische Reaktorregelung folgerichtig mit dem Einfahren von Steuerstäben reagierte. Infolge der relativ langsamen Einfahrgeschwindigkeit der Steuerstäbe konnte die Leistung allerdings nicht stabilisiert werden, so dass der Neutronenfluss weiter anstieg. Dies bewirkte einen verstärkten Abbau der im Kern angesammelten Neutronengifte (insbesondere Xenon-135). Dadurch stiegen Reaktivität und Reaktorleistung weiter an, wodurch immer größere Mengen an Dampfblasen entstanden, die ihrerseits wieder die Leistung erhöhten. Die Effekte schaukelten sich auf.
Der Schichtleiter Aleksandr Akimow löst manuell den Knopf des Havarieschutzes, Typ 5 (Notabschaltung des Reaktors), aus. Dazu wurden alle zuvor aus dem Kern entfernten Steuerstäbe wieder in den Reaktor abgeworfen; doch hier zeigte sich ein weiterer Konzeptionsfehler des Reaktortyps: Durch die an den Spitzen der Stäbe angebrachten Graphitblöcke (Graphit war der Hauptmoderator des Reaktors) wurde beim Einfahren eines vollständig herausgezogenen Stabs die Reaktivität zunächst kurzzeitig um den Wert eines halben Betas erhöht, bis der Stab tiefer in den Kern eingedrungen war.
Die durch das gleichzeitige Einfahren aller Stäbe massiv gesteigerte Neutronenausbeute ließ die Reaktivität so weit ansteigen, bis schließlich (um 01:23:44 h) die prompten Neutronen alleine (also ohne die verzögerten Neutronen) für die Kettenreaktion ausreichten („prompte Kritikalität“) und die Leistung innerhalb von Sekundenbruchteilen das Hundertfache des Nennwertes überschritt („nukleare Leistungsexkursion“).
Die Hitze verformte die Kanäle der Steuerstäbe, so dass diese nicht weit genug in den Reaktorkern eindringen konnten, um ihre volle Wirkung zu erzielen. Die Steuerstäbe verkeilten sich nach nur 2 bis 2,5 Metern anstelle der vorgesehenen 7 Metern im Reaktor. Die herrschende Temperatur ließ die Druckröhren reißen und das Zirconium der Brennstäbe (Ummantelung der Brennstäbe) wie auch den Graphit mit dem umgebenden Wasser reagieren. Wasserstoff und Kohlenmonoxid entstand in größeren Mengen und konnte aufgrund der Beschädigungen des Reaktorkernes entweichen.
Unterhalb des Reaktorgebäudedeckels bildeten diese mit dem Sauerstoff der Luft entzündbares Knallgas, das sich vermutlich entzündete und zu einer zweiten Explosion (nur Sekunden nach der „nuklearen Exkursion“) führte.
Welche Explosion zum Abheben des über 1000 Tonnen schweren Deckels 20 21 des Reaktorkerns (Biologischer Schild) führte, ist nicht ganz klar. Außerdem zerstörten die Explosionen das (nur als Wetterschutz ausgebildete) Dach des Reaktorgebäudes, sodass der Reaktorkern nun nicht mehr eingeschlossen war und direkte Verbindung zur Atmosphäre hatte. Der glühende Graphit im Reaktorkern fing sofort Feuer. Insgesamt verbrannten während der folgenden zehn Tage 250 Tonnen Graphit, das sind etwa 15 % des Gesamtinventars.
Große Mengen an radioaktiver Materie wurden durch die Explosionen und den anschließenden Brand des Graphits in die Umwelt freigesetzt, wobei die hohen Temperaturen des Graphitbrandes für eine Freisetzung in große Höhen sorgten. Insbesondere die leicht flüchtigen Isotope Iod-131 und Cäsium-137 bildeten gefährliche Aerosole, die in einer radioaktiven Wolke teilweise hunderte oder gar tausende Kilometer weit getragen wurden, bevor sie der Regen aus der Atmosphäre wusch. Radioaktive Stoffe mit höherem Siedepunkt wurden hingegen vor allem in Form von Staubpartikeln freigesetzt, die sich in der Nähe des Reaktors niederschlugen.
26. April 1986, 4:30 h:
Akimow meldet einem Mitglied der Kraftwerksleitung, Formin, dass der Reaktor intakt geblieben sei. Obwohl augenscheinlich überall kontaminierte Bruchstücke des Brennstoffes sowie Graphitelemente verstreut lagen und die Situation bei Tageslicht offensichtlich war, wird seitens der Operatoren sowie der Kraftwerksleitung (Formin und Brjuchanow) noch bis zum Abend des 26. April darauf beharrt, dass der Reaktor intakt sei und nur gekühlt werden müsse. Entsprechende Meldungen wurden nach Moskau übermittelt. Dieser Umstand ist nach Medwedew hauptursächlich für die späte Evakuierung der Stadt Prypjat.
Gegen 5:00 h waren die Brände außerhalb des Reaktors waren durch die Werkfeuerwehr gelöscht. Block 3 wurde abgeschaltet.
April 1986, 15:12 h:
Der Werksfotograf Anatoli Rasskasov macht die ersten Aufnahmen von der radioaktiven Rauchfahne und dem zerstörten Reaktorblock 4 von einem Hubschrauber aus. Ein Großteil seiner Aufnahmen waren infolge der hohen radioaktiven Strahlung geschwärzt. Einige Abzüge behielt er für sich und die anderen Fotos mitsamt der Negative wurden dem Notfallstab und den Sicherheitsbehörden übergeben. Einige Aufnahmen werden erst am 30. April 1986 retuschiert im sowjetischen Fernsehen gezeigt, um das Ausmaß des Unglücks weniger dramatisch darstellen zu können.
27. April 1986:
Die Blöcke 1 und 2 wurden um 1:13 bzw. 2:13 abgeschaltet. Es wurde begonnen, den Reaktor von Block 4 mit Blei, Bor, Dolomit, Sand und Lehm zuzuschutten. Dies verringerte die Spaltproduktfreisetzung und deckte den brennenden Graphit im Kern ab. Insgesamt wurden ca. 40 t Borcarbid abgeworfen, um die Kettenreaktion zu unterbinden, ca. 800 t Dolomit, um den Graphitbrand zu unterdrucken und die Warmeentwicklung zu verringern, ca. 2400 t Blei, um die Gammastrahlung zu verringern, wie auch eine geschlossene Schicht uber den schmelzenden Kern zu bilden und ca. 1800 t Sand und Lehm, um die radioaktiven Stoffe zu filtern. Rund 1800 Hubschrauberfluge waren hierfur notig. Das zur Kuhlung in den Block 4 eingeleitete Wasser sammelt sich aufgrund der geborstenen Leitungen in den Raumen unter dem Reaktor, wo es stark kontaminiert wurde und mit etwa 1000 Rontgen pro Stunde strahlte. Zur gleichen Zeit begann die Evakuierung der in der Nähe liegenden Stadt Pripjat mit 48.000 Einwohnern.
28. April 1986, 21:00 h:
Nachdem die sowjetischen Behorden zunachst eine Nachrichtensperre erlassen hatten, meldete die amtliche Nachrichtenagentur TASS erstmals einen „Unfall“ im Kernkraftwerk Tschernobyl. Um 21:30 Uhr wird auch in der Nachrichtensendung Wremja eine Meldung verlesen, dass der Reaktor in Tschernobyl beschadigt sei und man „Masnahmen zur Beseitigung der Folgen der Havarie“ ergriffen habe. Um 19:32 Uhr MEZ schickt auch die Presseagentur dpa eine erste Eilmeldung an die Nachrichtenredaktionen in der Bundesrepublik Deutschland ab.
Sowjetische Quellen sprachen erstmals von einer „Katastrophe“ und von zwei Todesopfern. Auch internationale Medien berichten erstmals ausfuhrlicher uber den Unfall, verfugten aber uber kein Bild- oder Filmmaterial vom Unglucksort. US-Militarsatelliten liefern ab dem Nachmittag erste Aufnahmen und Informationen, die allerdings der Offentlichkeit vorenthalten werden.
Im sowjetischen Fernsehen wird erstmals ein Foto vom Unglucksort gezeigt, das aber retuschiert wurde. Auch die ARD-Nachrichtensendung Tagesschau zeigte erstmals am 30. April 1986 das von den sowjetischen Behorden bearbeitete Foto. Der Generalsekretar des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion erklarte:
„Wenn wir die Offentlichkeit informieren, sollten wir sagen, dass das Kernkraftwerk gerade renoviert wurde, damit kein schlechtes Licht auf unsere Ausrustung geworfen wird.“ (Michail Gorbatschow, auf der nichtoffentlichen Sitzung des ZK der KPdSU am 29. April 1986)
Erst am 5. Mai 1986 nimmt Gorbatschow im sowjetischen Fernsehen Stellung zum Reaktorungluck in Tschernobyl.