07/2010: Fotografie und Wirklichkeit

Innerhalb der Bildenden Künste hatte die Fotografie vor allem in ihren Anfängen einen schweren Stand, da ihr nachgesagt wurde, dass sie nichts Neues schaffe, sondern lediglich die Realität abbildet. Abgesehen von der Tatsache, dass zahlreiche Maler Fotografien als Vorlagen für ihre Gemälde nutzten, stellt sich die Frage nach der Wirklichkeit. Was ist Realität? Marvin L. Minsky schreibt dazu:

Das Gehirn ist im Schädel eingeschlossen; einem stillen, dunklen und reglosen Ort: Wie kann es erfahren, wie es draußen aussieht? … Die einzigen Wege zwischen der Welt und dem Gehirn sind Nervenstränge wie jene, die von Augen, Ohren und der Haut herkommen. Auf welche Weise gelingt es den Signalen, die durch diese Nerven gehen uns das Gefühl zu vermitteln, uns in der Welt zu außerhalb zu befinden? Die Antwort lautet, dass dieses Gefühl eine komplexe Illusion darstellt. Wir haben nie tatsächlichen Kontakt zu der Welt außerhalb. Statt dessen arbeiten wir mit Modellen der Welt, die wir in unseren Gehirnen fertigen.“ (M. L. Minsky, Mentopolis, 1990)

Akzeptiert man die Tatsache, dass die Wirklichkeit bzw. das, was wir aufgrund unserer Sinneseindrücke als Wirklichkeit annehmen, nur ein Modell ist, kann man auch nicht mehr von der Realität sprechen, da selbst das komplexeste Modell abstrahiert und verallgemeinert (vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Modellbildung). Die individuell wahrgenommene Realität basiert also auf individuellen Modellen und ist keineswegs eindeutig.

Verfechtern der Eingangsthese, dass mit der Fotografie die Wirklichkeit abgebildet wird, kann man insofern zustimmen, dass der Blick durch den Sucher der Kamera jedem Betrachter dasselbe Bild bietet. Nehmen wir zusätzlich noch den unwahrscheinlichen Fall an, dass mehrere Personen mit exakt derselben Kamera und demselben Objektiv an exakt derselben Stelle ein Foto aufnehmen, gibt es mehrere Faktoren, die jede Aufnahme einzigartig machen:

  1. Die grundlegende Entscheidung, den Auslöser zu betätigen und eine Aufnahme zu machen. Nicht jeder Mensch wird jedes Motiv für eine Fotografie auswählen.
  2. Durch die Wahl der Brennweite, Blende und Belichtungszeit nimmt der Fotograf ebenso maßgeblich Einfluss auf die Bildgestaltung wie durch die Wahl der konkreten Perspektive.
  3. Ein und dieselbe Aufnahme kann nur mit identischem Equipment und der unter Punkt 2 genannten Einstellungen entstehen. Dies ist jedoch immer nur einer Person möglich, die zum gegebenen Zeitpunkt genau den einen Punkt im Raum einnimmt; bereits wenige Sekunden früher oder später herrschen nicht mehr exakt dieselben Lichtbedingungen – als Ausnahme ist hier lediglich die Studiofotografie zu nennen, da diese künstliche und reproduzierbare Lichtverhältnisse ermöglicht.
  4. Sowohl bei der analogen Filmentwicklung als auch bei der digitalen Bildbearbeitung trifft der Fotograf grundlegende Entscheidungen über das abschließende Erscheinungsbild einer Aufnahme.

Diese Entscheidungen, die der Fotograf im Vorfeld der Aufnahme und bei der Ausarbeitung zu treffen hat, sind durchaus mit der Arbeit eines Malers vergleichbar, der für seine Arbeiten Pinsel, Farben, Papier oder Leinwand auswählt. Wie jeder andere Künstler vermittelt der Fotograf seine persönliche Sicht der Wirklichkeit. Ob die vom Fotografen intendierte Aussage seiner Arbeit – und damit das beabsichtigte Modell der Welt und Wirklichkeit – vermittelt wird, hängt auch von den persönlichen Erfahrungen und dem daraus gebildeten Modell der Wirklichkeit des Betrachters ab. Fotografie ist somit wie jede andere Form der Bildenden Künste eine Art der Interaktion und Kommunikation.

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